ATEM-KONTROLLE oder Lebensfluss
Als ich noch ein kleines Mädchen war, hatte ich eine Riesenangst – vor allem.
Ich hatte Angst vor tiefem Wasser, weil ich die Haie darin nicht sehen konnte.
Ich hatte Angst vor dem Blitz, der mich erschlagen könnte.
Ich hatte Angst aufs Pferd zu steigen.
Angst vor der Brücke, die brechen könnte.
Und ich hatte Angst vor der Dunkelheit im Keller, denn die herumirrenden Geister und noch viel mehr die Spinnen waren nicht meine besten Freunde.
Trotzdem rannte ich. Ich rannte überall drauflos, ohne zu wissen, wohin. Sprang ins Wasser, ohne schwimmen zu können, um dann von mich jederzeit umgebenden schützenden Händen behütet zu werden.
Doch die größte Angst war die Angst vor dem Tod. Die Angst, nicht mehr zu sein. Die Angst, zu verlieren. Menschen, die ich liebe, zu verlieren, mich zu verlieren: Verlustangst! Daraus entstand der Versuch, zu kontrollieren: Mich, das Leben und sämtliche Situationen.
Mein spiritueller Weg ist aus dieser Todesangst entsprungen.
Ich wollte das Vertrauen finden, welches mir bestätigt, es ist alles gut und alles wird gut sein. Meine innere Essenz wird niemals verloren sein, sie wird sogar den Tod überdauern und ist ewig und behütet. Doch bis ich verstand, dass ich dieses Vertrauen erst in dem Moment finde, wo ich jegliche Kontrolle aufgeben muss, war es ein langer Weg.
Durch Kontrolle können wir Vieles schaffen, oft unmenschlich viel. Der Körper und der Geist bringen Höchstleistungen, wir können uns selbst und viele Dinge in kürzester Zeit vorantreiben und können einer Art Perfektion ziemlich nahe kommen.
Doch während wir das tun, verlieren wir immer mehr Kraft, werden immer härter, lebloser und fallen irgendwann ATEMLOS zusammen. Tatsächlich, je mehr Kontrolle wir ausüben, desto flacher wird die Atmung. Kontrolle macht leblos, schnürt das Leben und den Atemfluss ab. Denn Atmen beruht auf Leben, Hingabe und Annahme.
Die erarbeitete Härte und der Kraftverlust durch Dauerkontrolle führt eine Menge atemloser Menschen hin zur Yogapraxis.
Wir wollen endlich durchatmen – statt dem festhalten lieber geschehen lassen und vom Leben selbst getragen werden.
Doch siehe da, was begegnet uns oft auf der Matte als Erstes? ATEMKONTROLLE. Der Versuch, dem vorgegebenen Atem hinterherzukommen, einheitlich zu atmen. Und sehr oft die Aussage: Ich kann nicht atmen. Das mit der Atmung ist das Schwerste, ich komme da nicht hinterher. Mache ich was falsch?
Allzu oft höre ich diese Dinge. Doch wie kann das natürlichste und das uns allernächste zu schwer, gar falsch sein? Könnten wir nicht atmen, würden wir unmittelbar umfallen.
Vertrauen wir unserem Atem nicht, vertrauen wir uns selbst und unserem Leben nicht.
Ist uns der Atem so unbekannt, so unnatürlich, haben wie eventuell schon zu lange nicht mehr wirklich zu uns selbst hingeschaut.
Wenn wir ein Baby oder auch einen schlafenden Menschen beobachten, können wir sehen, wie ein ganzheitlicher Atem möglich ist. Ohne jegliches Zutun. Der ganze Körper atmet von allein. Gerade deshalb, weil da kein Verstand ist, der den Fluss blockiert.
In der Yogapraxis dürfen wir wieder einen Zugang zu unserem uns innewohnenden, natürlichen Atemfluss finden. Indem wir uns bewusst werden, wann und warum wir den Atem blockieren, dürfen wir lernen, den Atem wieder hinein zu lassen. Ein Öffnen für die Atmung, freilassend, empfangend.
Kürzlich war meine kleine Schwester verschollen, spurlos verschwunden – einige Stunden nur, bis sie fröhlich am späten Nachmittag ohne Handy zurückkam. Ich in der Zwischenzeit in größter Verlustangst, Panik, Hilflosigkeit und Hyperventilation. Am nächsten Morgen war mein ganzer Körper, die Muskulatur völlig verspannt und die Yogapraxis hart.
Unser Körper reagiert auf all unsere Ängste und die daraus resultierenden Mechanismen des Festhaltens mit Verspannung, Enge, Energieverlust und Atemlosigkeit.
Inzwischen durfte ich lernen, dass jegliche Kontrolle zwecklos ist.
Doch das, was geblieben ist – und ich bin sicher, das wird auch immer so bleiben – sind die schützenden Hände, die uns umgeben, uns führen. Irgendwann sicher nicht mehr die unserer Eltern, doch da sind große Hände, die behüten uns ewig.
Das einzige, das wir selbst in der Hand haben, ist die Art und Weise, wie wir mit dem, was uns vor die Füße gelegt wird, oder auch mit dem, was aus unserem Leben verschwindet, umgehen.
Was passiert, wenn wir die Kontrolle loslassen? Und warum klammern wir so sehr? Unser Verstand denkt, er weiß es besser und startet immer wieder den unmöglichen Versuch, seine eigenen Vor – stellungen mit Kraft durchzusetzen und stellt immer wieder VOR. Schneidet uns ab von dem, was ist und und ohnehin kommen wird.
Er blockiert so den Zugang zu unseren Gefühlen und zu unserem Herzen, dem Ort, wo wir das ersehnte Vertrauen finden können und uns so, anstatt zu halten, führen zu könnten.
Wie beim Yoga: Nicht wir, bzw. der Verstand führt die Atmung; der Atem führt die Bewegung.
Nicht wir können das Leben führen. Das Leben selbst möchte uns führen. Hingabe!
Der Verstand hat eine Riesenangst, deshalb klammert er so. Er denkt, wenn er loslässt, werden ihn die Gefühle und das Leben selbst überwältigen. Er denkt, er verliert sich selbst und wird sterben. Und er hat Recht! Das Erleben wird so groß werden, dass er es nicht mehr begreifen (greifen = halten) kann. Doch es wird uns ohnehin aus den Händen gerissen werden, alles. Doch in dem Moment, wo wir loslassen, werden wir aufgefangen. Immer.
Vor einem Flug, wo ich mal wieder eine riesige Angst hatte, weil dort ganz klassisch Kontrolle unmöglich ist, sagte mir eine gute Freundin: Du kannst nicht tiefer fallen, als in Gottes Hände. Das beruhigte mich damals. Ich bin sicher, sie hat Recht.
Und ja, am Ende werden wir sterben. Wir, unsere Liebsten und mit unserem letzten Atemzug werden wir dieses Leben verlassen, bis wir dann mit dem nächsten „ersten Atemzug“ diese Weltenbühne erneut betreten dürfen.
Und bis das geschieht, können wir üben: Wir können uns, das Leben und den Atem nicht dauerhaft kontrollieren. Jegliche Kontrolle blockiert den wohlwollenden Lebensfluss, lässt uns stagnieren, verkrampfen und gegen uns selbst kämpfen und doch verlieren.
Erst wenn wir locker lassen, kann das Leben FÜR uns wirken. Sicher anders als gedacht aber sicher zu unserem Besten.
Wenn es beginnt zu fließen, können wir nur noch staunen, was geschieht. Wir können es beobachtend geschehen lassen. Es wird aus jeglicher gedachten Form geraten und so weit und facettenreich werden, dass dem Verstand nur noch die Kinnlade runterfallen wird und er doch nichts tun kann.
Wenn das Leben erstmal aus der Form unserer begrenzten Vorstellungen von Richtig und Falsch, Sein oder Nicht-Sein gerät, entsteht erst die Form, die sein soll.
Eine Form, die eigentlich eine Formlosigkeit ist, bzw. ständig wieder ihre Form verliert, da sie einer permanenten Veränderung unterliegt. Sie wird immer mehr zu einer empfangenden Form, die es braucht, um unser ganz Persönliches, Individuelles, Tiefstes zu empfangen, was wir selber sind . Eben das, was ewig bleibt und sich niemals auslöschen lässt, auch wenn die Form sich auflöst.
Nur ohne feste Form kann es fließen. Immer weiter, mal schnell, mal langsam, mal in guten und mal in grausamen Gefühlen, doch im Fluss des Vertrauens ist die Liebe in jeder Erfahrung präsent.
Wenn du dich eingeengt fühlst und nicht mehr atmest, dann lass los. Lasse dich endlich selbst los, gib dir Raum zum Atmen, gib deinem Leben Raum sich zu entfalten. Entfalte dich! Erkenne, dass der Atem sowie das Leben ganz von alleine in dich hineinflutet, unermüdlich, beständig, dich jederzeit versorgend, nährend, verändernd und doch ewig da.
Durchatmen, geschehen lassen, Shavasana.